Kopfüber in die 70er Jahre

(Fernsehfilm)
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Deutschland, 2011, 2x45 min

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Folge 1: Büstenhalter und Barrikaden "Wir wollten uns doch befreien!" ruft Marion Schuhmacher in ihrer Kölner Altbau-Küche - und erinnert sich dann zusammen mit ihrer Freundin Ute Schön an ihre wilden Jahre in der ersten Kölner Wohngemeinschaft, an Klos ohne Türen, an den Kampf gegen faule männliche Mitbewohner und überholte Rollenklischees, aber auch an superkurze Miniröcke und das wunderbare Leben ohne BH. Reporterin Cathrin Leopold ist kopfüber abgetaucht in eine andere Zeit in die 70er. Ein Jahrzehnt des Aufbruchs und des Ausprobierens. Die Männer lassen sich die Haare lang wachsen, tragen enge bunte Hemden und Schlaghosen, die Frauen fordern ihre Männer zu mehr Hausarbeit auf und probieren neue Lebensformen ohne Bevormundung und Besitzansprüche aus. Der Drang der Jugend nach Veränderung ist groß - auch wenn den älteren das nicht gefällt. Cathrin Leopold, selbst in den späten 70ern geboren, rückt mit ihren neugierigen Fragen denen zu Leibe, die die 70er als Erwachsene erlebt haben und - fernab der großen Politik - aus ihrem ganz persönlichen Alltag plaudern. Der Essener Polizist Uwe Klein nimmt Cathrin Leopold mit auf Streife und erzählt ihr von so merkwürdigen Dingen wie dem "Haar- und Barterlass", mit dem die Polizeidirektion auf ihn und seine jungen, langhaarigen Kollegen reagierten. Die Haare mussten ab - damit die jungen Polizisten nicht etwa mit "Sozialrevoluzzern" verwechselt würden. Die Verkäuferin Monika Keultjes aus Duisburg lässt Cathrin Leopold Gemüse schnippeln - für das Leibgericht ihrer Kinder.
Das mussten sich diese in den siebziger Jahren mittags selbst aufwärmen. Denn Monika Keultjes wollte unbedingt arbeiten gehen und setzte das gegen den Willen ihres Mannes durch - zur Aufbesserung der Haushaltskasse und um ein bisschen unabhängiger zu sein. Kreuz und quer reist Cathrin Leopold durch Nordrhein-Westfalen und begegnet überall Menschen, die damals die Welt ein Stück verändern wollten, um ihre Träume zu leben. In Kalkar am Niederrhein trifft sie auf Bruno Schmitz, Atomkraftgegner der ersten Stunde. Er zeigt, wo und wie er es geschafft hat, über 40.000 Anti-Atomkraftgegner vor das geplante Kernkraftwerk zu locken. Der Bauernsohn Ludwig Brenneke erzählt, wie er in seinem frommen ostwestfälischen Dorf gegen die Langeweile und die spießigen Erwachsenen rebellierte. Kornelia Ebert aus Bonn erinnert sich an den antiautoritären Kinderladen, in den sie ihre Kinder brachte - damit aus ihnen keine Duckmäuser würden. Vergnügt verfolgte sie die freie Entfaltung ihrer Sprösslinge: ungehemmt matschen, malen, toben. Zur gleichen Zeit schlug sich in Essen der junge Tankstellenbesitzer Wolfgang Lersch mit den Folgen der Ölkrise rum. Cathrin Leopold erfährt von jedem seine ganz persönlichen Erinnerungen an dieses Jahrzehnt, illustriert durch unterhaltsame Filmausschnitte aus dem WDR-Archiv. So taucht sie kopfüber in ein vergangenes Jahrzehnt: in die 70er, in denen, das merkt sie bald, so vieles begann, das für Cathrin Leopold heute selbstverständlich ist.

Folge 2: Minipli & Megafon "Vielleicht einen Rundschnitt? Oder eine kurze Dauerwelle? Am schönsten fände ich für Sie aber eine Außenrolle!" Friseurin Christine Zauner greift fachmännisch in das Haar von Cathrin Leopold. Die wünscht sich einen Haarschnitt aus den 70ern - und das war die Zeit der Friseurmeisterin. "Wir haben uns damals viel getraut", erzählt sie, während die ersten Haare fallen "und das galt nicht nur für die Frisur". Als junge Frau hatte sich Christine Zauner aus ihrem Dorf auf nach Düsseldorf gemacht. Tagsüber frisierte sie die Damen auf der Kö , abends tauchte sie ein in das Nachtleben der unbekannten Großstadt. Cathrin Leopold, geboren in den späten 70ern, taucht wieder kopfüber ein in dieses Jahrzehnt. Sie trifft Menschen, die damals schon erwachsen waren, und lässt sich von ihrem Alltag, von Träumen, Plänen und Sehnsüchten erzählen. In Herne trifft sie die Brüder Richie und Volker Kahl. Die waren damals Bergarbeiterjungs mit breitem Kreuz und großer Klappe - und zeigen ihr, wie man sich damals in der Disco bewegte. Denn an den Wochenenden verwandelten sie sich wie ihr Vorbild John Travolta in die Diskokönige vom Ruhrgebiet und träumten in weißen Anzügen von der großen Karriere als Tanzstars. Im zweiten Teil ihrer Reise erfährt Cathrin Leopold von den Gegensätzen dieser Zeit. Auf der einen Seite wuchs der Wohlstand und die Lust an neuen Dingen: Man leistete sich ausgefallene Möbelstücke aus orangem Plastik, Kleidung mit großen bunten Mustern, Fototapeten und die neuen spritfressenden Sportwagen wie Opel Manta oder Ford Capri.
Auf der anderen Seite standen Menschen wie Bruno Schmitz, der in seiner Landkommune all das nicht besitzen und ganz anders leben wollte. Regale aus Apfelsinenkisten statt Designmöbel, selbstangebautes Bioessen statt Tiefkühlkost und Jutetasche statt Plastik. Die Menschen, denen Cathrin Leopold begegnet, sind so unterschiedlich wie ihre Träume, die sie damals verwirklichen wollten: Da ist Siddika Michiels, die mit sechs Jahren als türkisches Gastarbeiterkind nach Mönchengladbach kam. Sie erlebte mit ihren Eltern und fünf Geschwistern, dass man den Türken keine Wohnung vermieten wollte. Sie erzählt, wie sie in der neuen Heimat Freunde fand und als eines der ersten türkischen Kinder in den Siebzigern ein Gymnasium in Mönchengladbach besuchte. Ob auf einer Tour mit dem Bonanzasrad durch Köln mit einem Bonanzafahrrad, auf Streife mit einem Polizisten in Essen, mit Außenwelle im Frisiersalon an der Kö oder beim Grillen im Park mit der türkischen Gastarbeitertochter: Cathrin Leopold taucht kopfüber in die 70er und erlebt, was die Menschen - fernab der großen Politik - damals bewegte, berührte, beschäftigte. Ihr Fazit am Ende ihrer Zeitreise? Die 70er waren ein Jahrzehnt, in dem die Menschen vieles Neues ausprobierten, sich von alten Zwängen befreiten und anders leben wollten, als die Generationen vor ihnen. Vieles, was wir heute ganz selbstverständlich finden, nahm so in den 70ern seinen Anfang. (WDR Fernsehen)

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